Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaft
Gesellschaftliche Erwartungen an Medizin und Gesundheitswesen


Für die Bevölkerung ist das gesundheitliche Wohlbefinden das wichtigste Gut: Die Bereitschaft zum Konsum ist für den Einzelnen potenziell unendlich.
Von der Medizin erwarten die Bürger alle möglichen Leistungen von höchster Qualität.
Dabei sind die Erwartungen und somit die Nachfrage potenziell unbegrenzt. Die Erwartungen gegenüber der Medizin sind mythische Erwartungen.
Vom Gesundheitswesen erwarten die Bürger, dass alle medizinischen Leistungen verfügbar sind.
Das Gesundheitswesen soll den gleichberechtigten Zugang zu Leistungen und Versorgung für die Gesamtbevölkerung gewährleisten.
Dabei sollen die Kosten des Gesundheitssystems vom Einzelnen und von der Gesellschaft tragbar sein.
Die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken soll als Grundwert weiter erhalten bleiben.
Die Gesundheitspolitik verfolgt diese „klassischen" Ziele, indem die Kantone den Zugang für die Gesamtbevölkerung zu den medizinischen Leistungen gewährleisten. Dabei ist der Zugang mehr als gewährleistet, die Kosten (und somit die Prämien) steigen aber kontinuirlich.
Der Bund ist zuständig für das Finanzierungssystem. Das Versicherungssystem soll die Gerechtigkeit des Zuganges für alle Bürger gewährleisten. Dabei wird eine echte Förderung der Qualität der medizinischen Leistungen von unserem Finanzierungssystem eher behindert.
Wenn jede einzelne Leistung honoriert wird, dann fördert unser Finanzierungssystem die Quantität viel mehr als die Qualität.
Zu den Herausforderungen und vorrangigen Zielen einer modernen Gesundheitspolitik gehört die Gewährleistung des Zugangs, nicht nur zu Leistungen, sondern auch zu den Informationen über die medizinischen Leistungen.
Der Gesundheitsmarkt ist von einer Informationsasymmetrie zwischen Nachfrage und Angebot gekennzeichnet, Für den Patient als Konsumierenden ist es unmöglich den Leistungserbringenden gegenüber, aussagekräftige Konsumpräferenzen zu äussern.
Die Publikationen in den bedeutendsten wissenschaftlichen Medizinzeitschriften machen darauf aufmerksam, dass die medizinische Tätigkeit mehr auf der Unsicherheit als auf der Sicherheit basiert.
Die grosse Unsicherheit der medizinischen Wissenschaft und Praxis ist der zivilen Gesellschaft jedoch praktisch unbekannt.
Die Medien verbreiten seit jeher Nachrichten über die Wissenschaft und die biomedizinische Praxis, die auf einer übertriebenen Darstellung der Nutzen beruhen. Risiken, unerwünschte Wirkungen, Unsicherheiten sowie wissenschaftliche Kontroversen werden in der Regel verschwiegen.
Eine zweite Herausforderung einer modernen Gesundheitspolitik ist Förderung der Gesundheit:.
Die Förderung und Erhaltung der Gesundheit beschränkt sich nicht auf immer raffiniertere Technologien und eine steigende Inanspruchnahme der medizinischen Leistungen.
Die Gesundheit einer Bevölkerung hängt auch von Faktoren ab, die in den Augen vieler mit Lebensquantität und -qualität nichts zu tun oder kaum Einfluss darauf haben.
Es handelt sich hier um folgende Faktoren: die Kultur im weiten Sinne, die soziale und ökonomische Stellung (Faktoren, die wiederum Verhalten und Lebensstil beeinflussen) und die Umwelt, im Sinne eines ökosystems. zu diesen Determinanten der Gesundheit kommt das individuelle Erbgut hinzu.
Verschiedene Autoren haben evaluiert, wie gross der Einfluss jedes einzelnen dieser Faktoren auf die Lebensdauer ist.
Der Beitrag beispielsweise des strikt gesundheitlichen Bereichs zur Erreichung dieses Ziels wurde auf 10-15% geschätzt, während der Einfluss der sozio-ökonomischen Faktoren bei weitem am grössten ist und wird auf 50% geschätzt.
Wenn die Gesundheitssysteme in Bezug auf die Lebensdauer der Referenzbevölkerungen bewertet und verglichen werden, so zeigt sich, dass nahezu keine Korrelation zwischen den Ausgaben und der Lebenserwartung besteht.
In den Industriestaaten, die einen gleichberechtigten Zugang zur Versorgung gewährleisten, besteht also keine Korrelation zwischen der Verfügbarkeit von Angebot und Legenserwartung.
Wie beim Untergang der Titanic, wo das überleben positiv korreliert war mit der Einschiffungsklasse: Auch in der zivilen Gesellschaft, bei Personen, die eine bessere sozioökonomische Stellung innehaben, erhöht sich die Lebensdauer und die Mortalitätsrate nimmt folglich ab.
Die vielen in den letzten Jahren publizierten Studien zeigen eindeutig, dass die soziale und ökonomische Ungleichheit unweigerlich eine gesundheitliche Ungleichheit nach sich zieht.
Von dieser Feststellung lässt sich die Tatsache ableiten, dass sich eine ganze Reihe politischer oder gesetzgeberischer Entscheide ausserhalb des Gesundheitsbereichs direkt oder indirekt auf die individuelle und kollektive Gesundheit der Bevölkerungen auswirken.
Daher sollten vor jeder wichtigen politischen Entscheidung in den Bereichen Wirtschaft, Arbeit, Ausbildung, Transporte, Umwelt und Sozialschutz auch die möglichen gesundheitspolitischen Auswirkungen berücksichtigt werden.
Im Kanton Tessin wird seit einem Jahr die Bewertung der Auswirkung der verschieden politischen Projekte auf die Gesundheit der Bevölkerung durchgeführt.
Alle Gesetze, die auf die Gesundheit der Bevölkerung einen Einfluss haben könnten, werden in Zusammenarbeit zwischen den kompetenten Departementen dem sogenannten Health Impact Assessment unterstellt.
Eine weitere notwendige Klarstellung betrifft die Nützlichkeit und die Effektivität der gemeinschaftlichen klassischen Gesundheitsförderungsprogramme, die darauf abzielen, die sogenannten Risikofaktoren zu mindern.
Die klassischen Gesundheitserziehungsprogramme von heute mit dem Ziel, eine Veränderung des Lebensstils zu begünstigen, lassen alle ausser Acht, dass es gerade die nicht von der individuellen Kontrolle abhängigen Faktoren sind, die in Wirklichkeit den Lebensstil beeinflussen.
Das Ausserachtlassen der Determinanten der Sozioökonomie und der Umwelt bei der Umsetzung der Gesundheitserziehungsprogramme bewirkt im besten Fall, dass vollkommen ineffiziente Interventionen vorgeschlagen werden, und im schlimmsten Fall, dass die Individuen beschuldigt werden, allein verantwortlich zu sein für Ereignisse, die sich ihrer Kontrolle entziehen.
(Der soziale Nachteil muss also immer explizit in Betracht gezogen werden, wenn Gesundheitserziehungsprogramme entworfen werden, andernfalls werden die am meisten benachteiligten Personen im Vergleich zu den anderen nur noch mehr diskriminiert).
Eine objektive Information, welche den mythischen Erwartungen der Patienten realistisch entgegenwirkt sowie mehr Aufmerksamkeit gegenüber den wichtigsten ausserhalb des Gesundheitssystem liegenden Einflussfaktoren sind die Herausforderung der modernen Gesundheitspolitik.
Um diese Themen eingehend zu prüfen und nachher entsprechende Massnahmen durchzusetzen, ist die Zusammenarbeit zwischen den politischen Verantwortungsträgern Bund und Kantonen unerlässlich.Genauso unerlässlich für jegliche Entscheidungsgrundlage ist eine bessere Datenerhebung und auswertung.
Das bereits gestartete Projekt Nationale Gesundheitspolitik sieht eine Plattform zwischen Bund und Kantonen sowie ein schweizerisches Gesundheitsobservatorium als Netzwerk für Datensammlung vor.
Im Rahmen des Projektes Nationale Gesundheitspolitik befasst sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema Empowerment (vermehrte Information) der Bevölkerung und Determinanten der Gesundheit.

Patrizia Pesenti,
Regierungsrätin